Vertreibung und Neuanfang im Ammerland

Anfang 1945 kam die bittere Zeit der Vertreibung. Die russischen Kriegsgegner waren im strammen Vormarsch und so blieb unserer Familie nur die Flucht in Richtung Westen. Es wurden zwei Leiterwagen eiligst vorbereitet. Wie wir heute wissen, war der Zeitpunkt für viele aber zu spät, sie liessen bei der ungewissen „Reise“ ihr Leben. Dieses Schicksal ist auch unserer Urgrossmutter Martha Elisabeth Zabel widerfahren. Ein früheres Flüchten stand von den Nationsozialisten aber unter allerstrengster Bestrafung, i.d.R. dem Tod. Ihren mühsam über die Jahrzehnte mit eigenen Händen aufgebauten Besitz, bestehend aus dem Wohn- und Wirtschaftsgebäude, einer Scheune und 23 ha Land, mussten unsere Familien Blum und Zabel unter grossen Tränen zurücklassen. Auch das Vieh musste unter Schmerzen sich selbst überlassen werden.

Es war Januar 1945. Aus dem Norden wie auch aus dem Südrn bei Thorn war der Kanonendonner zu hören. Eine eiskalte grusselige Stimmung. Die Strassen waren vollkommen überfüllt. Weil die Hauptstrasse in Graudenz vor lauter Flüchtlingen nicht mehr passierbar war, wurden die nachdrängenden Fahrzeuge von Debenz durch den Volkssturm über Weburg weiter in Richtung Kulm gelenkt. Kanonendonner war aus dem Norden und Südwesten (aus Richtung Thorn) zu hören. Eine gespenstische und bedrohliche Kulisse. In diesen Jahren wurden unendlich viele Millionen Menschen quer durch Europa aus ihrer Heimat vertrieben bzw. befanden sich auf der Flucht. Alle hatten grosse Angst vor Racheakten der Soldaten bzw. weitere Benachteiligung in den von fremden Mächten besetzten Gebieten. Die Trecks kamen nur sehr langsam vorwärts, wurden oftmals von der Front überrollt. Und für weitere Enge auf den offiziellen Strassen sorgten darüberhinaus die i.d.R. bevorrechtigten zurückweichenden deutschen Truppen. Nicht selten kam es dadurch zu abgedrängten Wagen in den Graben. Auch durch diese Umstände verloren viele Menschen ihr Leben. Auch bei den noch vorhandenen Brücken hatte die Wehrmacht „Vorfahrt“, es bildeten sich kilometerlange Staus. Für unsere Familien ging es bei Temperaturen von unter 25 Grad Minus also zwangsläufig zunächst über die zugefrorene Weichsel. Doch die Eisdecke war nicht an allen Stellen ausreichend, um gefahrlos auf die andere Seite zu gelangen.

Die Flüchingsgruppe kam zu den wichtigen, eilends von den noch vorhandenen Soldaten bzw. der bis dahin ausgeharrten Bevölkerung gebauten Übergängen des Flusses. Zuerst wurde die Eisbrücke in der Nähe von Althausen/Starogrod und Bienkowka gebaut. Es wurden Strohballen als äussere Begrenzung zusammengelegt. Danach wurde die „Bahn“ zwischen den Strohballen mehrfach für die Nacht mit Wasser verfüllt und man hoffte, dass es tiefe Temperaturen geben würde, damit sich letztendlich eine befahrbare „Eisbrücke“ bildet. Aber schon bei der Ab- bzw. Auffahrt sollten später einige Wagen die Böschung hinabrutschen.

Begleitet wurden unsere Familien Blum und Zabel von zwei Fremdarbeitern, zu denen ein gutes Verhältnis bestand. Der Familienvater Erwin Blum, der zu der Zeit zum Volkssturm einberufen war, wurde schmerzlich vermisst. Die Ängste, ob und wann man sich wiedersieht, kann man sich vorstellen. Die Fahrt, auch wenn nicht alle immer mitfahren konnten und wollten, erfolgte mit den zwei Leiterwagen und vier Pferden. Emil Blum, unser Urgrossvater wollte nach den Erzählungen i.d.R. lieber selbst laufen, um den Platz den anderen Angehörigen zu überlassen und um in der eisigen Kälte in Bewegung zu bleiben. Daneben waren auf diesem Wagen Erna, Alfred und Waltraud Blum. Wagen zwei wurde von Leon, dem Fremdarbeiter vom Hof, gefahren. Eine gemeinsame Flucht bzw. die Hilfe der Fremdarbeiter waren meist ein Inidiz dafür, dass sie entgegen der Anweisungen der Nationalsozialisten auf dem Hofe menschlich behandelt wurden. Immer hiess es bei den Tieffliegerangriffen, sofort anhalten und in Deckung! Dies zerrte neben den winterlichen Bedingungen zusätzlich deutlich an den Nerven und der Gesundheit. Unsere Urgrossmutter Martha Zabel verlor während des Marsches in etwa im Bereich des heutigen Landes Mecklenburg ihr Leben. Sie konnte wegen der eisigen Temperaturen und der weiter anrollenden russischen Armee, nicht angemessen beigesetzt werden. Keine Zeit für Trauer, keine Zeit des Abschieds!

Vermutlich sind die beiden Wagen gemeinsam ab März 1945 zunächst in Wildeshausen, der ersten Anlaufstelle im Oldenburger Land, angekommen und registriert worden. Wir gehen davon aus, dass sie noch nicht zu den organisierten Transporten nach der Kapitulation gehörten. Die erste Einquartierung erfolgte in Wardenburg bei Einheimischen. Leider haben wir keine persönlichen Informationen vorliegen, wer unsere Angehörigen aufgenommen hat. Der allgemeinen Literatur sind sehr unterschiedliche persönliche Erfahrungen der Vertriebenen zu entnehmen. Von sehr herzlicher Aufnahme und Unterstützung bis zur völligen Ablehnung reichen da die Schilderungen.

Später war die Freude sehr gross als Erwin Blum, weitgehend körperlich unversehrt, aus dem Krieg zurückkehrte. Aus den Erzählungen unseres Vaters und denen der Tochter eines gutes Freundes von Erwin wissen wir, dass er diesem wohl in den letzten Kriegstagen das Leben gerettet hat. Zeitlebens waren die beiden dadurch befreundet. Die Einquartierungen mussten i.d.R. durch kommunale Vertreter bzw. freiwillige Helfer zwangsweise organisiert werden, denn nicht überall stießen die „fremden“ Leute auf offene Türen. Unsere Familie Blum bekam nach einiger Zeit die Möglichkeit, in einem kleinem Waldhäuschen bzw. einer Hütte zwischen Wardenburg und Tungeln, einzuziehen.

Erwin Blum hatte den Willen, seiner Familie den Lebensunterhalt auch in neuer fremder Umgebung zu sichern. Er nahm diverse Tätigkeiten an. Einerseits arbeitete er in den Wäldern des Litteler Fuhrenkamps und Charlottendorf. Dort hat er u.a. grosse Kugeln mit 2 Meter Durchmesser den Berg heruntergerollt. Diese schlugen dann die Bäume um. Weiterhin verdiente er sein Geld als Fuhrunternehmer im Torfbereich in Wardenburg und Ofen. Später nahm er Arbeit, wie auch sein Sohn Alfred, auf dem Bau an. U.a. tat er dies bei dem Zimmereiunternehmen Fritz Heidkämper.

Mit der Arbeit auf dem Bau legte Erwin den Grundstock zum Erwerb einer alten Heuerlingsstelle in Wehnen (Gemeinde Bad Zwischenahn-Landkreis Ammerland). Die Bemühungen, sich wieder etwas „Eigenes“ zu schaffen, waren somit in dieser schwierigen Nachkriegszeit von Erfolg gekrönt. Die bescheidenen 1,5 ha reichten aber nur noch zur Ernährung in Form einer Nebenerwerbslandwirtschaft.

Elternhaus in Wehnen

So wurde unsere Familie Blum also im Ammerland sesshaft. Aber der Verlust der Heimat in Westpreussen wog weiterhin schwer. Die Hoffnung, vielleicht doch nochmals nach Weburg zurückzukehren, liess erst sehr langsam nach. Wir Kinder und unsere Mutter waren ja hier im Ammerland geboren, insofern konnten wir diese Heimatsehnsucht zur damaligen Zeit nur bedingt nachvollziehen.

Für unseren Vater Alfred Blum war es auch keine Frage, hauptberuflich nach seinem Schulabschluss 1948 im Handwerk zu arbeiten. Auch die Lehrer in der Schule empfahlen i.d.R. wegen des anstehenden Wiederaufbaus bzw. der notwendigen Schaffung von zusätzlichem Wohnraums vor allem für die Vertriebenen und Flüchtlinge einen Bauberuf zu ergreifen.

Anfang der 60er Jahre hatte unser Vater seine zukünftigen Ehefrau – Herta Meiners –  bei einem Konzert in der Weser-Ems-Halle in Oldenburg kennengelernt.  Sie heirateten 1963 in der ev.luth. Kirche Bad Zwischenahn.

Unsere Mutter zog in unser Haus in Wehnen ein, kümmerte sich um den Haushalt und versorgte auch die Tiere der kleinen Nebenerwerbslandwirtschaft.

Einige Schweine, drei Kühe und einige Hühner wurden anfänglich im Wohn- und Wirtschaftsgebäude, später dann in den zusätzlich erstellten Ställen untergebracht.

Zusätzliche Ställe

Unser Großvater Emil Blum sowie unser Vater gingen währenddessen ihrer Tätigkeit auf ihren Arbeitsstellen am Bau nach.

Handwerklich war unser Vater sehr geschickt, wovon auch die Arbeits- und Berufsschulzeugnisse berichten. Nach der Ausbildungsfirma „Wragge“ wechselte er zur Fa. „Tiefbau Schröder“, wo er bis Ende der 1970er Jahre als Geselle arbeitete. An manch einer neuen Siedlung hat unser Vater somit tatkräftig mitgewirkt. Wir erinnern uns, dass er mit seinem gut gefüllten Henkelmann (Essensbehälter) früh morgens zur Arbeit fuhr. I.d.R. kam unser Vater erst zum Abendessen gegen 19.00 Uhr zurück.

Jede weitere freie Minute wurde in den Um- und Ausbau des Hauses und Stallungen investiert. Raumweise wurde dieses Gebäude umgebaut. So erhielten wir Kinder recht früh jeder unser eigenes Zimmer.

Elternhaus ca. 2015

Im Laufe der Jahre kamen wir – drei Kinder – Wolfgang (1965), Heike (1967) und Klaus (1972) zur Welt.

Familie Alfred & Herta Blum

Wir genossen in dieser dörflichen Gegend die Freiheiten, die uns die wenig befahrene Nebenstraße, die Wiesen und der Wald bzw. die Natur boten.

Grote Wisch – Unsere Strasse –
Von unseren Eltern und Großeltern bewirtschaftete Wiesen am Haus

Für uns Kinder nimmt Bad Zwischenahn, zu deren Gemeinde auch der Ort Wehnen gehört, eine besondere Stellung ein, da wir dort die weiterführenden Schulen besucht haben. Gute 10 km sind Wohn- und Schulort voneinander entfernt. Es gab zwar einen Schulbus, aber manchmal sind wir auch mit dem Fahrrad zur Schule gefahren.

Unsere Strasse – der Grote Wisch (=Grosse Wiesen) – war eine sog. Splittersiedlung. Es befinden sich dort etwa 30 Wohnhäuser, wovon unseres wohl zu den ältesten gehört haben dürfte (Baujahr 1908). Weiterhin gab es die von uns als 1. und 2. bzw. 3. betitelten Wälder. Nicht sehr kreativ, aber so wussten wir alle eindeutig, worüber wir sprachen. Für uns waren dies Oasen zum Spielen. Dort haben wir Buden aus Holz und Farn gebaut, die Bäume bestiegen und andere Abenteuer mit unseren Freunden erlebt. In den 70er Jahren wurde die Autobahn 28 von Oldenburg nach Leer gebaut. Sie durchschnitt einige landwirtschaftliche Flächen in unserer Gegend. Im Winter haben wir regelmässig die überschwemmten Wiesen der Haaren genutzt, um dort Schlittschuh zu laufen bzw. Eishockey zu spielen. Nicht selten kamen wir völlig verfroren nach vielen Stunden Spass auf dem Eis nach Hause.

Treffpunkt für uns Kinder war in der Strasse oftmals der Stromkasten vor dem Haus der Familie Rausch. Von hier gingen wir dann auf die weiterer „Pirsch“.

Die Nähe zur Residenzstadt Oldenburg mit ihren alten von Kriegswirren überwiegend verschonten Gebäuden war stets sehr reizvoll. So konnten wir leicht mit dem Fahrrad die Innenstadt erreichen. Dabei besuchten wir den Buchhandel, die Bibliothek, die Universität und andere Freizeit- und Sporteinrichtungen. Auch entscheidend für unseren weiteren Lebensweg.

Insbesondere bei der Renovierung des zweiten Schuppens halfen wir Kinder schon recht gut mit.

Stallgebäude später Auto- bzw. Treckerschuppen und Werkstatt
Fahrradschuppen

Und wenn „wir“ nicht am Bauen waren ging es auf die Wiesen, in den Garten oder in den Wald, zu tun gab es genug.

Blick in den Garten bzw. auf den an das Haus grenzenden Acker im Frühjahr
Vater und Sohn bei der Gartenarbeit

In besonderer Erinnerung ist uns Kindern der strenge Winter 1978/79. Da hatten wir nicht nur längere Zeit schulfrei sondern auch in der weissen Pracht einen Riesenspass. In die Dünen auf dem untigen Bild sind wir vom Dach der Garage gesprungen. Mit den Kindern unserer Strasse haben wir die Winterzeit stundenlang die Böschung unserer Autobahnüberführung zum Rodeln genutzt.

Autogarage links /Fahrradschuppen rechts
Unsere Terasse: Versunken im Schnee

Nach rd. drei Jahrzehnten auf dem Bau – ohne die heutigen technischen Möglichkeiten – war die Gesundheit unseres Vaters insbesondere wohl auch durch das Schleppen schwerer Zementsäcke bzw. Steine stark beeinträchtigt. Glücklicherweise fand er Ende der 70er Jahre eine neue Arbeitsstelle beim Sozialgericht Oldenburg.

Die ersten vier Schuljahre verbrachten wir in dem nächsten Ort Ofen, wo auch die für uns zuständige Kirche stand. Im untigen Trakt I verbrachte einer der beiden Autoren sein erstes Schuljahr.

Grundschule Ofen Gebäudetrakt I

Es waren natürlich die Pausen, die uns viel Freue bereiteten. Da spielten wir Fussball, nutzten die neu erbaute Seilbahn oder spielten Fangen „Jungs die Mädchen“.

Sowohl der Bäcker „Assauer“ als auch der Tante-Emma-Laden „Willms“ in der alten Dorfstrasse waren hin und wieder willkommene Anlaufpunkte für uns Schüler, um etwas Süsses zu erwerben.

Ehemaliger Tante Emma Laden „Willms“

Beide Geschäfte gibt es heute leider nicht mehr. In die Kirche gingen wir meist an den Feiertagen. Insbesondere an Heiligabend haben wir aufgrund der besonderen Athmosphäre und Spannung auf die spätere Bescherung besondere Erinnerungen. Besonders beeindruckt waren wir von dem grossem Tannenbaum in der Kirche. Manchmal machten wir noch einen Spaziergang, damit der Weihnachtsmann auch genügend Zeit hatte, um die Bescherung schön vorzubereiten. Eröffnet wurde diese i.d.R. durch eine kleine Glocke nach dem Abendessen. Auch wenn in der Familie nicht die ganz grosse musikalische Begabung hatten, so reichte es zumindest für ein „Oh Tannenbaum“ oder „Oh Du Fröhliche“ bzw. die „Stille Nacht“.

Und waren wir einmal krank, so wurden wir sehr fürsorglich von unserer Mama bzw. unseren Eltern umsorgt. U.a. gab es zur Aufheiterung einmal zwei „dicke“ Fix und Foxi-Hefte. Und vermutlich war die optimale Versorgung kein Zufall, denn bereits auf der hauswirtschaftlichen Berufsschule war die Gesundheitsversorung ein Unterrichtsthema. Es freut uns, dass wir hierzu einen aussergewöhnlich feinen säuberlich aufgeschriebenen Nachweis aus dem Schulheft unserer Mutter haben. Manchmal fragen wir uns schon, warum wir diese sorgfältige Schrift nicht vererbt bekommen bzw. selber „gepflegt“ haben… Interessant sind aus unserer Sicht die damaligen Inhaltsbetonungen in der Schule.

Ausschnitt aus Schulheft von Herta Blum

In der Kindheit haben wir auch den einen oder anderen Ausflug unternommen. Sowohl mit dem Fahrrad als auch mit dem Auto war es ein besonderes Erlebnis. Leer, das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald

nach Dreibergen sowie in die Freizeitparks in Verden bzw. Soltau ging es, zum Teil auch zusammen mit unseren Verwandten.

Heidepark Soltau
Greetsiel

Auch die Besichtigung der Huntebrücke in Oldenburg ist u.a. fotografisch festgehalten. Weiterhin besuchten wir oft unsere Verwandtschaft in Westerscheps, Warendorf, Itzehoe, Hengstforderfeld, Wardenburg und Tange. Besonders toll war dies natürlich, wenn wir dort ebenfalls spielende Kinder trafen.